Im ewigen Eis

 

Vierzig Tage waren sie bereits in der Antarktis.

Seit zehn Tagen war er allein.

Während der vergangenen Tage war es für Hamilton immer schwieriger geworden, den rechten Handschuh abzustreifen, zu schreiben. Er spreizte die klammen Finger der ungeschützten Hand und zog das Tagebuch zu sich herüber. Sorgfältig schrieb er, wie jeden Tag, eine kurze Notiz.

„25.4. Der Schneesturm ist heute wieder stärker geworden. Ich muss meine tägliche Ration noch weiter verringern. Die Vorräte werden dann reichen. Holcom und Christie sind seit fünf Tagen mit den Hundeschlitten und mit neuem Proviant zu mir unterwegs.“

Erschöpft legte er den Bleistift beiseite, streifte den hart gefrorenen Handschuh wieder über die rechte Hand und fiel in ein dämmerndes Dösen zurück.

Er hatte dem glorreichen Ruhm seiner Nation einen neuen Glanzpunkt gegeben. Sein Name wurde endgültig im großen Buch der Geschichte verzeichnet sein; ihm würde die Ehre zuteil werden, vom König in den Adelsstand erhoben zu werden: Sir Francis Hamilton. Ein stilles Lächeln überflog sein Gesicht. Die zukünftige Lady Edwina Hamilton würde es zurecht als eigene Belohnung ihrer Geduld betrachten, lange Monate und Jahre ohne ihn gewesen zu sein.

„26.4. Ich bete zu Gott, der anhaltende Schneesturm möge nicht das Zeichen dafür sein, dass die Winterstürme in diesem Jahr schon jetzt beginnen. Holcom und Christie würden dann erhebliche Schwierigkeiten haben, voranzukommen und mich im ewigen Eis zu finden. Doch so, wie bisher unser Vertrauen in Gott, Vaterland und der eigene Wagemut unseren Weg durch alle Gefahren beschützt hat, so werden wir auch diesen Schneesturm überstehen.“

Holcom und Christie. Sie waren umgekehrt, den Proviant aus dem Zwischenlager nachzuholen. Nur einer hatte weiterfahren können. Die Gleichung aus Wegstrecke, Ausdauer der Schlittenhunde, Körpergewicht und Proviant hatte sich für alle drei ins Minus verschoben und es war keine Frage, dass er weiterfahren würde, er, als erster das Ziel erreichen würde, er, als Inspirator, Motor und als Führer dieser Expedition der ersten Menschen zum Mittelpunkt des ewigen Eises.

„28.4. Heute habe ich meine letzte Essensration verzehrt. Meine Zuversicht, dass Holcom und Christie mich erreichen, ist ungebrochen. Der Schneesturm ist heute schwächer geworden. Die tapferen Kameraden werden morgen sicherlich hier eintreffen und es wird ein wahrer Festschmaus werden. Wir drei, die schon so viele Wege miteinander gegangen sind. Auch ihnen wird der Ruhm zuteil werden, an dieser Expedition teilgenommen zu haben. Stolz werden sie sein, wenn sie schon aus der Entfernung die Flagge unserer Nation hier im Eis eingerammt sehen werden: Für König, Gott und Vaterland.“

Hamilton spürte den ersten Zugriff der lebensfeindlichen Kälte auf seine Haut. Er hatte noch eine Option. Auch wenn es ihm schwerfallen würde, einen der Schlittenhunde zu töten - wenn es sein musste, dann sollte es so geschehen. Ihre Treue und Ergebenheit scheute auch nicht den Tod.

„30.4. Meine Kräfte werden schwächer. Der Schneesturm ist stärker geworden. Mein Versuch, das Zelt zu verlassen, ist gestern und auch heute misslungen. Meine Beine gehorchen meinem Willen nicht mehr. So gebe ich mich in Gottes Hand, sein Wille geschehe. Wenn ich den Kelch der Tapferkeit, des Mutes und des Glückes, der mir mitgegeben war, bis zur Neige geleert haben sollte, dann blicke ich auf ein erfülltes Leben zurück und danke meinem Herrn und Schöpfer für seinen Schutz auf allen meinen Wegen.“

Erschöpft ließ Francis Hamilton den Stift sinken und die Blätter des Tagebuches zurückgleiten. Nachdenklich betrachtete er die erste Seite, die Widmung: Für meine Frau Edwina.

Francis Hamilton spürte, wie ihn die Kräfte verließen und er dem eisigen Zugriff der Kälte nicht mehr standhalten konnte. Er durchstrich das ‘Frau’ in der Widmung und schrieb darüber ‘Witwe’. Dann nickte er voll des Trostes. Jetzt hatte er sein Leben abschließend geordnet. Gottergeben schloss er die Augen.

Ein leises Schnarren ließ ihn seine letzten Kräfte zusammennehmen. Mühsam klaubte er das Handy aus der Jackentasche, hielt es sich an sein Ohr.

„Francis?“ Es war die Stimme seiner Frau, sehr leise und schwach. Aber, es war Edwina!

„Ja, Edwina, hier ist Francis. Ich habe mein Ziel erreicht. Es ist gelungen!“

„Francis? Wie geht es dir?“

„Edwina, ich sterbe.“

„Hamilton! Tu mir das nicht an! Ich will dich lebend wiederhaben! Warum glaubst du, habe ich alle die Jahre auf dich gewartet! Warum ...“

Das Handy war Hamilton aus der Hand gefallen.

Mit einem „Verdammt!“ starb er.

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