Auf hoher See

 

Wenden wir uns nun zum ersten Mal den niederen Instinkten der männlichen Liebe zu: der Insamination aufgrund von niederträchtiger Berechnung zum Erreichen eines faulen Lebens.

Und wo früher feine Damen Spitzentaschentücher zu Boden schweben ließen, da lässt der heißblütige Mann von Welt - heute - kaltblütig ein Brieflein flattern.

 

Äußerlich lässig stand er an der Reling des Finnjet.

Seit das weiße Fährschiff in Travemünde abgelegt und er seine Position bezogen hatte, verharrte er bewegungslos.

Die Sonnenbrille, die seine halb geschlossenen Augen im Schatten beließ, und die Brise des Seewindes, die sein blondes Haar kräuselte, erweckten den Eindruck, er würde sich entspannt der Sonne zuwenden.

Er hatte noch nicht nachgerechnet, die wievielte Fahrt es in diesem Jahr bereits war: die zwölfte, dreizehnte, vierzehnte Reise? Es war ihm egal, es sollte sowieso bald ein Ende damit haben.

Seine Augen musterten intensiv das höher gelegene neunte Schiffsdeck: die ,Commodore Class'. Er fand seine Beobachtung der vergangenen Reisen bestätigt: Auffallend viele Frauen hatten dort Kabinen gebucht. Sie hatten ihre Koffer nicht selber hinauf geschafft, die Schiffsstewards konnten sich wahrscheinlich ein gutes Trinkgeld verdienen: Die Commodore Class war extravagant teuer. Es musste also jemand diese Kabinen bezahlen können. Ob sie es selber waren, oder ihre Männer oder Väter, was interessierte es ihn, das Geld war jedenfalls vorhanden.

Er war es leid, als Handelsvertreter für Landwirtschaftsmaschinen ständig unterwegs zu sein: Er wollte endlich eine feste Adresse, eine Bleibe für sich, nicht diese ständigen billigen Hotelzimmer und diese wechselnden unverbindlichen Affären mit zufälligen Kneipenbekanntschaften.

Ihm stand der Sinn nach etwas Soliderem, etwas mit Klasse: Eine vermögende Dame aus der Commodore Class, die ihm eine kleine, gepflegte Wohnung in Helsinki einrichtete und bezahlte - er würde sie dafür fair bedienen.

Nicht zu jung sollte sie sein, die hatten genügend andere Auswahl, auch nicht zu alt, bemuttern tat ihn schon die eigene zu Hause, so in seinem Alter: Mitte vierzig, das wäre das Ideale.

Unmerklich spannten sich seine Ellbogen auf der Reling: Da war sie.

Der Steward hatte gerade zwei Koffer in die Kabine getragen und durch die verglaste Außenfront konnte er klar sehen, wie sie ihm unauffällig elegant etwas in die Hand drückte, vermutlich das Trinkgeld, und ihn mit einem feinen Lächeln verabschiedete.

Während sie in der Kabine verschwand, musterte er ihr Kostüm: erste Klasse, einfacher Schnitt, der ihre Körperkonturen sehr dezent zur vollen Geltung brachte.
Er merkte sich die Kabinennummer und wartete noch, ob irgendeine Begleitung auftauchen würde.

Nach zehn Minuten verließ er seine Position.

Innerlich rieb er sich die Hände. Seine erste Überlegung war es gewesen, sich im Treppenaufgang zu postieren, neben dem Aufgang von Deck neun, zu dem der Zugang nur mit einem elektronischen Schlüssel möglich war.

Das war ihm dann zu auffällig gewesen, zu sehr ein Herumlungern, und jetzt wusste er bereits, welche Kabinennummer sie hatte. Das Glück war ihm offensichtlich hold. Allerdings war er auch planvoll vorgegangen: Für diese Reise hatte er eine Doppelkabine für sich alleine gebucht.
Das kostete zwar deutlich mehr als seine normale Passage, statt 350,- Mark zahlte er nun 520,-, und seine Firma erstattete nur die normale Passage - die Differenz hatte er aus eigener Tasche zu bezahlen - aber es war die Investition in eine geruhsamere Zukunft. Und diese Zukünftige hatte die Kabine 912 der Commodore Class.

Nun also Schritt drei: die Kontaktaufnahme.

Denn das war ihm klar: Er musste sie auf dem begrenzten Areal des Schiffes kennenlernen und überzeugen. In Helsinki würde er keine Chance mehr haben, sich ihr zu nähern. Er hatte vier Tage vor sich und drei Nächte. Viel, aber auch nicht wieder so viel, als dass er sich allzuviel Zeit hätte lassen können.

In der Kabine überprüfte er noch einmal sicherheitshalber seine Finanzen: Sein Sparkonto war etwas geschrumpft, aber Investition in Klasse erforderten eben auch höhere Ausgaben als er es normalerweise für nötig hielt.

Bis zum Abendessen döste er alleine in der Kabine, duschte dann, zog seinen besseren Anzug an - er hatte ihn an Mutter vorbei schmuggeln müssen, um ihren neugierigen Fragen auszuweichen - und machte sich frühzeitig auf den Weg zum À-la-carte-Restaurant ,Adam and Eve'.

Wie geplant, war er einer der ersten Gäste und suchte sich einen strategisch günstigen Platz an einem der kleinen Zweiertische, von dem aus er das ganze Restaurant überblicken konnte.

Der Blick auf die Speisekarte ließ ihn schlucken, denn bereits die preiswertesten Gerichte kosteten das dreifache dessen, was im Selbstbedienungsrestaurant auf Deck sieben verlangt wurde. Er schob den Gedanken, wieder aufzustehen, beiseite, als sie eintrat und sich suchend umsah. Unwillkürlich zog er die große Speisekarte vor sein Gesicht.

Sie trug noch das gleiche Kostüm wie am Nachmittag. Er hätte sie aber auch an ihrer Haltung erkannt: Nur wenige Frauen konnten so gerade aufrecht stehen, ohne dabei arrogant zu wirken.

Langsam ließ er die Speisekarten etwas tiefer sinken, schielte unauffällig, wie er aus seiner Perspektive meinte, über den Rand. Sie hatte auf den Ober gewartet, der sie jetzt zu einem Tisch in seiner Nähe geleitete.

Mit Erleichterung bemerkte er, dass der Ober einen Stuhl zurückzog und ihr einen Platz anbot, auf dem sie seitlich zu ihm saß. Er konnte die Speisekarte wieder auf den Tisch sinken lassen.

Versunken betrachtete er ihre Nackenlinie, die sich von dem aufgesteckten dunkelblonden Haar bis zum Kragen des Kostüms in einer weichen Schwingung seinen Blicken darbot. In Gedanken strich er schon mit seinen Fingerspitzen auf ihrer Haut entlang, seine Hand glitt gefühlvoll langsam unter den Saum ihres Kostüms, als der Kellner wieder an ihren Tisch trat. Sie hatte sich schnell entschieden und besprach mit dem Ober ihre Bestellung.

Er versuchte, ihre Stimme zu hören, ihren Klang zu erlauschen, doch dazu war er zu weit entfernt oder sie sprach zu leise. Ein anderer Ober schreckte ihn auf, als er nach seinen Wünschen fragte und er sich nach einem gedankenvollen, rauhen Gemurmel: Fleisch, dann auf die Speisekarte besann und das nächstbeste bestellte, was er auf der Karte las.

Das Essen verging schnell, zu schnell, und sehnsüchtig folgte er ihr mit seinen Blicken, als sie mit leicht wiegendem Gang das Restaurant verließ. Der teure, ihren Körper weich umschmiegende Stoff verbarg alles und ließ noch mehr erahnen.

Er schluckte trocken. Aber eines war nun endgültig klar geworden: Sie reiste allein.

Er wollte schon immer einmal eine dieser Klassefrauen im Bett haben.

Beinahe hätte er sein Fernziel aus den Augen verloren.

Nachts, allein in der Kabine, lag er noch lange wach.

Ihr Bild stand vor seinem Auge und er grübelte darüber nach, wie er jetzt den Kontakt zu ihr herstellen konnte. Nur mit Blicken würde nicht klappen. Sie ging nach dem Essen nicht mehr auf dem Deck herum oder trank an der Bar noch etwas, so dass er sich ihr nicht hätte unauffällig nähern können.  Natürlich musste es stilvoll sein, keine plumpe Anmache. Das war nicht das, was man in ihrer Klasse erwarten durfte. Wie er es auch drehte und wendete, er fand keine Lösung.

Einen Brief?

Hastig suchte er nach Papier und fand schließlich Briefbogen und Umschläge mit dem Schiffsemblem der Reederei in einer der Schubladen der Frisierkommode. Oh, Mann, wann hatte er zum letzten Mal einen Brief geschrieben? Bei seinen bisherigen Kneipenbekanntschaften waren auch die Frauen willig gewesen und ein Wort hatte das andere ergeben, wobei die Absicht für beide immer eindeutig war.

Angebete! ... Mit oder ohne Ausrufungszeichen?

Egal. Weiter!: Von Ferne sah ich Sie und bin bereits entflammt! ... Schon wieder Ausrufungszeichen?

Egal. Er kämpfte sich durch die Zeilen. Schließlich nahm ihm der Schlaf den Kugelschreiber aus der Hand.

Das Klopfen der Putzfrau ließ ihn am nächsten Morgen verwirrt aufschrecken.

Sie blickte kurz in die Kabine und schloss umsichtig wieder die Tür, als sie ihn nackt auf dem Bett liegen sah.

Er rieb sich die schlaftrunkenen Augen, ein Blick auf die Uhr: die Frühstückszeit war bereits vorbei.

Verwirrt rubbelte er sich durch die Haare, er hatte von ihr geträumt und das Klopfen , der Brief lag noch auf dem Tisch.

Ach ja, der Brief!


Wie sollte er ihn... ? Er schloss die Augen und dachte kurz nach.

Natürlich!: Die Putzfrau: Das könnte ein Weg sein.

Hastig kritzelte er noch die Kabinennummer auf den Briefumschlag und blickte auf den schmalen Korridor hinaus. Der Reinigungswagen stand nur zwei Türen entfernt. Leise klopfte er an den Türrahmen, so dass die Putzfrau sich ihm zuwandte.

"Entschuldigen Sie bitte ...", der fragende Gesichtsausdruck der Putzfrau irritierte ihn, "reinigen Sie auch die Kabinen in der Commodore Class?"

Die Putzfrau nickte.

"Könnten Sie mir vielleicht einen Gefallen tun ...", dabei kramte er in seiner Tasche nach ein paar Münzen Trinkgeld, "und diesen Brief nachher in der Kabine 912 abgeben?"

Die Putzfrau nickte wortlos, nahm den Brief, die Münzen und steckte alles in ihre Kittelschürze.

Er nickte ihr fröhlich zu. Das war einfacher, als er gedacht hatte.

Beim Mittagessen erblickte er seine Auserwählte nur kurz, dann war sie wieder auf dem separaten Sonnendeck der Commodore Class verschwunden.
Aber, er frohlockte: während des Essens hatte sie sich unauffällig, aber offensichtlich beobachtend, suchend umgeblickt. Sie hatte also seinen Brief bekommen und fragte sich, wer der Absender sein könnte.

Natürlich war aus seiner Kabinennummer zu ersehen, dass er nicht auf Deck Neun eine Kabine hatte, aber was störte es? Wenn er diese Schlaffsäcke vom neunten Deck betrachtete, wusste er von ihrer Sehnsucht nach einem richtigen Kerl.

Abends muss er sich beherrschen, nicht aufgeregt draußen auf dem Deck herumzulaufen, eine Zigarette nach der anderen zu rauchen - an Deck gibt es keine Telefone.

Er liegt in seiner Kabine, träumt ein wenig, blättert unkonzentriert in einem Kriminalroman, wartet.

Endlich, 23.00 Uhr, klingelt das rote Telefon an der Kabinenwand, mit dem man mit der Information auf Deck vier verbunden wird oder interne Bordgespräche führen kann. Er meldet sich.

Eine Frauenstimme klingt in seinem Ohr.

Sie ist es!, bedankt sich für seinen begehrlichen Brief: kirrend, spielerisch.

Wird Sie zu ihm kommen?

Ja: Er soll die Kabinentür nicht abschließen und schon im Bett liegen, wenn sie kommt.

Nach einer halben Stunde endlosen Wartens öffnet sich leise die Kabinentür und das Licht wird vom Türschalter aus gelöscht. Er sieht ihren Körper im Schattenriss herein gleiten, will das Licht oberhalb des Bettes anknipsen, als sie schon bei ihm ist, ihn bittet, das Licht nicht einzuschalten.

In der Dunkelheit flüstert sie leise, sie wolle ihrem Mann nicht untreu sei, deshalb dürfe er sie nicht sehen, denn was im Dunkeln geschehe, das wisse niemand, das sei nicht geschehen.

Die Zeit vergeht wie im Fluge.

Ihr Körper offenbart alles das, was der anschmiegsame Stoff versprochen hatte.

Er ist sehr einfallsreich, sie allerdings auch.

Er ist begeistert, das hatte er nicht erwartet: eine Dame und gleichzeitig eine richtige Sau - doch schließlich will er sie überzeugen. Sie nennt ihn: leidenschaftlicher Hengst, er fühlt sich bestätigt.

Dann ist sie, mit einem: Bis morgen nacht, mein Hengst! verschwunden.

Er schläft lange, räkelt sich. Das Frühstück ist egal, das bekommen die Passagiere der Commodore Class sowieso auf ihrem exclusiven Deck serviert. Er wird sie erst zum Mittagessen wieder sehen können. In aller Diskretion.

Während des Essens lächelt er ihr erinnerungsvoll verstohlen zu, sie lächelt zurück, schlägt die Augen nieder, blickt zur Seite, er versteht: Diskretion. Natürlich.
Er betrachtet ihren geschmackvollen Goldschmuck, das teure Designerkleid. Ja: sie wird eine gute Partie sein.

Als er aufsteht, nickt er ihr verschwörerisch zu, sie lächelt unmerklich zurück.

Behaglich döst er in der Nachmittagssonne im Liegestuhl an Deck. Alles entwickelt sich so, wie er es sich vorgestellt hat: Eine leidenschaftliche, gut betuchte Frau, sehr diskret: Was will er mehr!

Die zweite Nacht wird noch aufregender als die erste. Die Klippen der Neugier sind schon in vertrautere Wellen der Lust übergegangen. Er ist sich sicher, dass er sein Ziel erreicht hat: so phantasievoll, fordernd und gleichzeitig willig, wie sie sich ihm in der verbergenden Dunkelheit öffnet! Und ihre Diskretion? Ihr Tick, sie wäre nicht untreu, wenn es dunkel sei? Es sollte ihm recht sein. Falls sie ihm irgendwann doch einmal überdrüssig werden würde, konnte auch er ganz diskret verschwinden.

Leise bittet er sie um ihren Namen und wo sie sich in Helsinki treffen können.

Kirrend beißt sie ihm in den Hals, flüstert ihm eine Telefonnummer ins Ohr: Er solle sie am folgenden Tag um 12.00 Uhr anrufen, dann würden sie sich verabreden.
Kaum ist sie davon gehuscht, schaltet er das Licht ein und notiert sich die Telefonnummer auf einen Zettel.

Das tiefe Signalhorn des Schiffes reißt ihn morgens aus dem Schlaf.

Hastig wirft er seine Kleidung aus dem Schrank und die Waschsachen in den Koffer, stellt ihn bereit. Die Passagiere gehen bereits von Bord.
Er hastet zur Reling.

Ja: Sie steht schon auf dem Kai, blickt kurz nach oben, er wirft ihr eine Kusshand zu, sie nickt diskret lächelnd und schüttelt leicht den Kopf. Diese Diskretion!

Der Chauffeur einer großen Limousine öffnet ihr die hintere Tür: ein letzter Blick auf ihre geliebten Beine, die ihn so lustvoll umschlungen hatten.

Sicherheitshalber vergewissert er sich, dass er den Zettel mit der Telefonnummer in der Tasche hat.

Dann schlendert er los, seinen Koffer zu holen.

Das Reinigungspersonal ist schon dabei, die Kabinen aufzuräumen und zu putzen.

Er holt seinen Koffer, kommt an der Reinigungsfrau mit den langen schwarzen Haaren vorbei, die seinen Brief transportiert hatte, blickt abschätzig auf ihren billigen weißen Kunstfaserkittel, auf ihren runden, festen Hintern, an den sich der Kittel in ihrer gebeugten Haltung faltenlos anschmiegt.

Er schnaubt: Wäre ja auch nicht verkehrt, gute Figur, lange schwarze Haare, sicher geil - er dreht sich um - aber die hat eben keine Klasse: Reinigungspersonal, etwas Primitiveres kann es ja gar nicht geben. Nichts für ihn.

Er lächelt ihr dankbar zu, weil sie ihm so zu Diensten war - sie lächelt wortlos zurück.

Gerade als er an ihr vorbei ist, hört ein leises: "Bis nachher, mein leidenschaftlicher Hengst!"

Mechanisch geht er weiter.

Die Stimme!

Es war die Stimme der vergangenen Nächte, die Stimme der Leidenschaft.

Er versteht es nicht.

Sie ist doch schon vor zehn Minuten in der großen Limousine weggefahren.

Er steht noch einen Augenblick an der Reling und blickt über die Hafenanlagen und das langgestreckte Rathaus von Helsinki.

Dann greift er in die Tasche, sucht den Zettel mit der Telefonnummer, zerknüllt ihn in der Hand und wirft die Kugel wütend ins Meer.

Eine Möwe, die das weiße Papier für ein Stück Brot hält, trägt es triumphierend krächzend fort.

 

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